Samstag, 5. September 2020

[Rezension] Adresse unbekannt von Susin Nielsen

Hardcover 
Übersetzt von Anja Herre 
Mit Illustrationen von Leslie Mechanic 
Ab 11 Jahren 
284 Seiten 
ISBN: 978-3-8251-5226-0 
Erschienen: 25.08.2020 

Klappentext: 
Felix findet seine Mutter toll, auch wenn sie oft chaotisch ist. Als sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können, wird ein alter VW-Bus ihr neues Zuhause. Doch damit fangen die Probleme erst an, und ein abenteuerliches Versteckspiel beginnt. Aber Felix hat einen Plan, wie er Geld beschaffen und alles wieder in Ordnung bringen kann … 
Am meisten plagt es Felix, dass er seinen besten Freund Dylan immer wieder anlügen muss, um seine Situation zu vertuschen. Doch als irgendwann die Wahrheit ans Licht kommt, erfährt Felix, dass er sich auf seine Freunde verlassen kann. Spannend und voller Situationskomik erzählt Susin Nielsen von der brüchigen Sicherheit in unserer Gesellschaft und von Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. 

Quelle: Urachhaus Verlag

Rezension: 
  
Als ich das erste Mal über „Adresse unbekannt“ stolperte, konnte das originelle Cover meine Neugierde sofort wecken. Da mich auch der Klappentext umgehend überzeugen konnte, stand für mich sehr schnell fest: Das Buch muss ich unbedingt lesen! Die Autorin Susin Nielsen kannte ich bisher nur vom Namen her. „Adresse unbekannt“ sollte also die große Ehre haben, mein erstes Werk von ihr zu werden.

Früher hat Felix mit seiner alleinerziehenden Mutter Astrid in einer Eigentumswohnung gelebt, aber da Astrid nicht gut darin ist, Jobs zu behalten und das Geld immer knapper wurde, landen die beiden über einige Zwischenstationen schließlich in einem alten VW-Bus. Den Sommer über in einem alten Camper durch Kanada touren – das klingt für Felix zunächst nach einem richtig aufregenden Abenteuer. Eigentlich sollte der Bus auch nur vorübergehend ihr neues Zuhause sein, aber aus der geplanten Zeit wird sehr schnell mehr werden. Und damit auch die Probleme. Da Astrid ziemlich chaotisch ist und kein Blatt vor den Mund nimmt, bleibt ihre Suche nach einem längerfristigen Job ergebnislos. Felix, der inzwischen fast 13 Jahre alt ist, hasst seine aktuelle Wohnsituation. Er will endlich wieder ein Klo und ein richtiges Bett haben, er sehnt sich nach Privatsphäre und einfach nach einem Ort, den er wirklich als ein Zuhause bezeichnen kann. Ein Zuhause mit einer Adresse. Besonders schwer zu schaffen macht ihm, dass er seinen Freunden gegenüber nicht ehrlich sein kann und ihnen ständig was vorflunkern muss. Anders als seine Mutter, die es mit der Wahrheit stets nicht so genau nimmt, belastet ihn das Lügen sehr. Ein Gutes haben Astrids beeindruckende Talente fürs Lügen und Schauspielern aber: Ihr ist es tatsächlich gelungen, ihren Sohn auf seine Traumschule zu bekommen. Die Schule ist wenigstens ein Lichtblick in Felix sehr schwierigem Leben. Sie stellt ihn allerdings auch vor Herausforderungen, schließlich darf niemand erfahren, dass er zusammen mit seiner Mutter (und seiner Rennmaus Horatio) in einem alten Bus wohnt. Als die Wahrheit irgendwann doch noch herauskommt, erkennt Felix, dass er richtig gute Freunde an seiner Seite hat, auf die er sich jederzeit verlassen kann.

Was für ein großartiges und wunderschönes Buch! Ich hatte mir ja schon gedacht, dass mich „Adresse unbekannt“ begeistern wird – der Klappentext klang einfach so, so gut. Dass mich mein erstes Werk aus der Feder von Susin Nielsen aber dermaßen umhauen würde, hätte ich dann doch nicht erwartet. Für mich hat sich „Adresse unbekannt“ zu einem absoluten Highlight, wenn nicht sogar Jahreshighlight entwickelt. Innerhalb eines Tages habe ich das Buch durchgesuchtet und eine unvergessliche Zeit damit verbracht.

Ich habe fabelhaft in die Handlung hineingefunden. Eigentlich wollte ich abends, kurz vor dem Schlafengehen, nur mal ein bisschen in „Adresse unbekannt“ reinlesen, war dann aber von Beginn an so gefesselt von der Story, dass ich gute 100 Seiten in einem Rutsch inhaliert habe. Das Buch liest sich wahnsinnig gut; Susin Nielsen hat einen exzellenten Schreibstil. Er ist mitreißend, humorvoll und so wunderbar emotional und warmherzig. Da zudem die Kapitel angenehm kurz sind, kann man bei diesem Buch eigentlich gar nicht anders, als nur so durch die Seiten fliegen.

Mit unserem Hauptprotagonisten konnte das Buch ebenfalls sofort bei mir punkten. Felix war mir auf Anhieb sympathisch. Er ist ein unheimlich lieber, tapferer und beeindruckend intelligenter Junge, den man einfach augenblicklich ins Herz schließen muss. Da wir alles seiner Sicht in der Ich-Perspektive erfahren und sein Fühlen und Gedanken unfassbar feinfühlig und authentisch dargestellt wird, gelingt es einem als Leser spielend leicht, sich in Felix hineinzuversetzen. Mir jedenfalls ist dies hervorragend geglückt. Ich habe sehr oft unendlich mit Felix mitgelitten und hätte ihn an vielen Stellen am liebsten ganz fest in Arm genommen und ihm gesagt, dass alles bestimmt wieder gut werden wird. Zugleich bin ich manchmal aus dem Schmunzeln aber auch gar nicht mehr herausgekommen. Wie es der Autorin gelungen ist, eine ungemein schwere Thematik auf eine leichte und witzige Weise zu behandeln, ohne dass sie an Ernsthaftigkeit oder Authentizität verliert, ist einfach nur famos. 

Susin Nielsen spricht in „Adresse unbekannt“ ausgesprochen viele wichtige und teils auch sehr schwierige Themen an. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Obdachlosigkeit, aber auch andere brisante Punkte kommen zur Sprache wie Depressionen, Verlust (Tod eines Haustiers), Diebstahl, Diversität, Homosexualität, Vertrauensbruch und auch Suizid und Vergewaltigung werden ganz leicht thematisiert. Die Geschichte handelt aber natürlich auch von sehr schönen Dingen wie Freundschaft, Familie, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft. In dem Buch steckt echt viel und Susin Nielsen ist es meiner Ansicht nach fantastisch gelungen, die Handlung an keiner einzigen Stelle zu überladen oder schwer werden zu lassen. Alles harmoniert perfekt miteinander und die Geschehnisse bleiben stets vollkommen kindgerecht.

Vom Verlag wird „Adresse unbekannt“ für Leser ab 11 Jahren empfohlen und dieser Altersempfehlung schließe ich mich an. Ich möchte allerdings noch mal darauf hinweisen, dass die Handlung insgesamt schon sehr traurig und bedrückend ist, trotz der Situationskomik und des herzerwärmenden und Hoffnung schenkenden Endes. Das Thema Heimatlosigkeit mag auf eine altersgerechte und auch unterhaltsame Weise behandelt werden, aber beschönigt wird dennoch selten etwas. Hunger, mangelnde Hygiene, Felix‘ Scham, weil er oft müffelt oder seine Notdurft in Park verrichten muss, seine Wut darüber, dass Astrid lügt, stiehlt und betrügt, seine Sorge, weil seine Mutter immer depressiver wird, seine Angst, dass jemand davon erfahren könnte, dass sie in einem Bus hausen und er deswegen von seiner Mutter getrennt und in eine Pflegefamilie gesteckt wird, seine große Verzweiflung...Das Buch hat fraglos eine Menge Tiefgang und geht richtig unter die Haut. Ich musste beim Lesen sehr oft ziemlich schwer schlucken und manchmal hatte ich sogar auch ein bisschen Pipi in den Augen. Aber wie gesagt, ich habe die Handlung an keiner Stelle als zu beklemmend oder heftig empfunden. Ich denke daher schon, dass „Adresse unbekannt“ für Leser ab 11 Jahren geeignet ist. Und für Erwachsene ist diese berührende und ergreifende Geschichte ebenfalls absolut lesenswert!

Obwohl meine Rezension schon so lang ist, möchte ich unbedingt noch kurz was zu den weiteren Charakteren sagen. Wie Felix, so wurden auch die Nebenfiguren erstklassig ausgearbeitet. Da hätten wir zum Beispiel Felix' Mom, die er immer Astrid nennen soll. Obwohl ich mich über Astrid stellenweise tierisch aufgeregt habe, mochte ich sie dennoch recht gerne. Wen ich neben Felix ganz besonders fest in mein Herz geschlossen habe, sind seine Freunde Dylan und die kratzbürstige Winnie Wu. Dylan fand ich einfach nur spitze und Winnie ist ebenfalls eine Marke für sich. Über Winnies sehr spezielle Art habe ich mich öfters köstlich amüsiert, grins.

Am liebsten würde ich noch auf viel mehr Charaktere eingehen, aber ich glaube, dann würde meine Rezi wirklich zu lang werden. Stellt euch einfach mal darauf ein, dass ihr im Verlauf der Geschichte die Bekanntschaft mit vielen außergewöhnlichen Figuren machen dürft, die allesamt dazu beitragen, dass ihr wundervolle Lesestunden mit dem Buch verbringen werdet.

Fazit: Ein phänomenales Buch voller Feingefühl, Herzschmerz und Humor! Susin Nielsen hat mit „Adresse unbekannt“ einen grandiosen Jugendroman aufs Papier gebracht, mit welchem sie mir ein richtiges Highlight beschert hat. Die Geschichte ist unglaublich einfühlsam, witzig und spannend geschrieben und klingt noch sehr lange in einem nach. Susin Nielsen behandelt das ernste Thema Obdachlosigkeit auf eine unnachahmliche Weise, von der man einfach begeistert sein muss. Ich jedenfalls bin es. Ich kann euch „Adresse unbekannt“ wirklich nur ans Herz legen – dieses Buch verdient es einfach, von ganz vielen Menschen gelesen und geliebt zu werden. Von mir gibt es nur zu gerne volle 5 von 5 Sternen!






Vielen lieben Dank an Vorablesen und den Urachhaus Verlag für das Rezensionsexemplar!
 

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