Freitag, 28. Mai 2021

[Rezension] Wie man eine Raumkapsel verlässt von Alison McGhee

Klappenbroschur
 
Übersetzt von Birgitt Kollmann
Ab 12 Jahren
208 Seiten
ISBN: 978-3-423-64071-8
Erschienen: 23.04.2021

Klappentext:

Von einer emotionalen Kraft, die einem den Atem nimmt
Will ist einer, der geht. Von zu Hause zur Schule zur Arbeit und wieder zurück. Tag für Tag. Er geht an diesem kleinen Kerl vorbei, der auf Schmetterlinge wartet. Vorbei an Superman, dem Obdachlosen. Vorbei an dem wahnsinnigen Hund, der immer bellt.
Aber es gibt auch Orte, an die will er nicht, kann er nicht gehen: die Brücke über die Fourth Street, den Laden mit den hundert chinesischen Segenssprüchen – Orte, die er immer mit seinem Vater besucht hat und der sich das Leben genommen hat.
Will muss herausfinden, wie er auf seine Probleme zugehen kann, statt vor ihnen wegzulaufen. Vielleicht, indem er den Mut findet, wieder mit seiner Freundin Playa zu sprechen? Ist das der Weg raus aus der Traurigkeit und ins Leben zurück?

Quelle: dtv

Rezension: 

Als ich das erste Mal von „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ hörte, wusste ich sofort, dass ich das Buch lesen muss. Titel und Klappentext überzeugten mich auf Anhieb und von dem tollen Cover habe ich auf den ersten Blick wie magisch angezogen gefühlt. Die Autorin Alison McGhee war mir überdies nicht unbekannt. Ich habe letztes Jahr ein Werk aus ihrer Feder gelesen und da dieses ein echtes Highlight für mich war, zögerte ich wirklich keine Sekunde lang und ließ „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ nur zu gerne bei mir einziehen.

Die meisten Leute sind keine Geher. Will aber ist einer. Er geht, täglich. Um sich den Tag aus den Fußsohlen rauszulaufen, um ihn aus sich heraussickern zu lassen. Er geht zur Schule, zu seinem Job im Ein-Dollar-Laden und wieder zurück. Sein Weg führt ihn an vielen Orten vorbei, die er liebt. Es gibt aber auch Orte, zu denen ihn seine Füße nicht tragen. An der Brücke über der Fourth Street, dem Voodoo-Laden mit den hundert chinesischen Segenssprüchen und dem Haus seiner Freundin Playa kann er gerade einfach nicht vorbeigehen. Die Erinnerungen, die mit ihnen verbunden sind, sind zu schmerzhaft. Das Laufen bietet Will die notwendige Gelegenheit, um mit dem Geschehenen fertigzuwerden und auch das Backen hilft ihm bei seinem Verarbeitungsprozess. Immerzu versucht Will zu Hause das Maisbrot seines verstorbenen Vaters nachzubacken. Ob es Will noch gelingen wird, seine Probleme anzugehen, anstatt vor ihnen davonzulaufen? Wird er seinen Weg finden?

Als mein Exemplar bei mir eintraf und ich es das erste Mal aufschlug, war ich äußerst überrascht von der Innengestaltung. „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ besitzt ausschließlich auf den rechten Seiten Text – die linken werden stets von einer Kalligrafie geziert, genauer gesagt von chinesischen Segenssprüchen. Insgesamt hundert Stück gibt es von ihnen und dementsprechend ist auch die Erzählung in hundert knappe Kapitel unterteilt. Da das Buch sehr dünn ist und nur wenig Text enthält, ist die Geschichte also ausgesprochen kurz. Damit ich hatte nicht gerechnet, muss ich sagen. Ich hatte gedacht, dass es sich bei „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ um eine Erzählung im klassischen Stil handelt. Dass ich diesbezüglich überrascht wurde, fand ich aber überhaupt nicht schlimm. Ganz im Gegenteil, ich mag außergewöhnlich aufgemachte Bücher richtig gerne und bin immer offen für neue innovative Erzählformen.

Erwartungsvoll begann ich also mit dem Lesen… - und ich sollte nicht enttäuscht werden.

Alison McGhee ist mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ in meinen Augen ein einzigartiger Jugendroman gelungen, in welchem sie auf eine kunstvolle und sensible Weise eine sehr emotionale und ernste Thematik behandelt. Die Geschichte strahlt trotz ihrer Ruhe eine große Kraft aus und obwohl sie so komprimiert und episodenhaft ist, steckt bemerkenswert viel in ihr. „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ ist so ein Buch, das nachwirkt und im Gedächtnis bleibt. Mich zumindest hat die Erzählung sehr zum Nachdenken angeregt und ich gehe fest davon aus, dass ich sie so schnell nicht wieder vergessen werde.

Was das Buch definitiv zu etwas ganz Besonderem macht, ist die Art und Weise wie es geschrieben wurde. Die Geschichte wird versähnlich erzählt, sodass sich die kurzen Kapitel fast schon wie Gedichte lesen. Normalerweise ist das nicht so mein Ding, mit Lyrik habe ich es irgendwie nicht so, aber hier hat es mir ungemein gut gefallen. Jedermanns Sache wird dieser spezielle Erzählstil wohl nur vermutlich nicht sein und auch ich muss zugeben, dass ich mich erst an ihn gewöhnen musste. Nachdem es mir aber gelungen ist, mich komplett darauf einzulassen, hat sich das Buch einfach nur wunderschön für mich lesen lassen. Hier auch mal ein ganz großes Lob an die Übersetzerin Birgit Kollmann, die das Original ganz hervorragend ins Deutsche übertragen hat!

Geschildert wird alles ausschließlich aus der Sicht des 16-jährigen Will in der Ich-Perspektive. Mit Will hat die Autorin einen ganz besonderen Protagonisten erschaffen. Er ist ein überaus freundlicher, nachdenklicher und mitfühlender Mensch, musste in seinen jungen Leben aber leider schon viel Schweres durchmachen.

Als Leser*in erfährt man erst so nach und nach, was Will widerfahren ist und warum seine Lebenssituation gerade eine so belastende ist. Warum hat er mit dem Laufen begonnen? Aus welchen Gründen meidet er manche Orte? Wieso geht er Playa aus dem Weg? Und warum möchte er unbedingt das perfekte Maisbrot backen?
Langsam erhält man ein immer klareres Bild und erkennt, wie viel Trauer, Schmerz und Kummer in Will steckt. Der Suizid seines Vaters, die Vergewaltigung von seiner Freundin – Will muss sich gerade mit echt heftigen Dingen auseinandersetzen. Also ich habe die Darstellung seines Verarbeitungsprozesses als vollkommen realistisch empfunden. Um mit seinen Gefühlen klarzukommen, konzentriert sich Will auf das Leid anderer und versucht deren Leben besser und schöner zu machen.

Ich habe Will unheimlich liebgewonnen. Mich haben seine Versuche, andere Menschen aufzuheitern, sehr berührt und zu sehen, wie er seine Umwelt wahrnimmt, hat mich ungemein fasziniert. Und, das muss ich hier einfach noch loswerden: Wills ständiges Maisbrot-Gebacke hat mir total Appetit auf Maisbrot gemacht. Obwohl ich keine Ahnung habe wie Maisbrot schmeckt (soweit ich weiß, habe ich noch nie welches gegessen) und Wills Backexperimente zudem alle misslingen, habe ich beim Lesen irgendwie plötzlich die unbändige Lust auf Maibrot verspürt. Ich glaube, ich muss demnächst mal ein Maisbrot essen.

Fazit: Einzigartig, packend, berührend. Eine ganz besondere Geschichte, die nachhallt.

Alison McGhee hat mit „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ einen außergewöhnlichen Roman aufs Papier gebracht, in welchem sie auf eine feinfühlige, originelle und poetische Weise schwere Themen behandelt wie Selbstmord, Missbrauch, Trauer und Verlust. Trotz seiner Kürze und Komprimiertheit vermittelt die Erzählung erstaunlich viel und obwohl sie sehr ruhig und ganz ohne Dramatik erzählt wird, reißt sie einen durchweg mit. Mich hat die Geschichte sehr bewegt und nachdenklich gestimmt und den einfühlsamen Will habe ich sofort in mein Herz geschlossen. Ich kann „Wie man eine Raumkapsel verlässt“ jedem nur ans Herz legen und vergebe 4,5 – hier gerundet auf 5 von 5 Sternen!
 
 
 





 
 
Vielen lieben Dank an den dtv Verlag für das Rezensionsexemplar!
 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Mit Absenden eines Kommentars erklärst Du Dich einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und für Statistiken von Google weiterverarbeitet werden.
Beim Setzen eines Hakens für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärst Du Dich ebenfalls einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) abgespeichert werden.
Weitere Informationen findest du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google